Nach Paris muss man jetzt auch nicht unbedingt. Das ist so einer dieser Orte, wo man meint, man müsste da mal hin. Und dann war man da, da kann man dann drüber reden. Aber jetzt so richtig toll fand man das dann auch nicht. Geht ihm jetzt schon seit 20 Jahren so. Er wollte allerdings nie hin. Also bleiben. Wollte nach Hongkong. Nach 6 Monaten Manege fegen bei einem deutschen Zirkus war er reif für die große weite Welt. 19 frische Jahre auf dem Buckel, Abi trotz Zirkuswunsch gerade noch so mitgenommen, war es Zeit, Deutschland den Rücken zu kehren und einmal um die Welt. Bloß das gute Geld. 1500 DM hatte er zusammengefegt, in den letzten 6 Monaten. Das reichte gerade für das Flugticket. Dann wäre er tatsächlich mit leeren Taschen angekommen, in der damals gerade frisch entbritisierten China-Enklave.
Also dann halt schnell den Umweg über Paris. Von da gibt es Direktflüge. Täglich. Schnell ein bisschen Geld verdienen und dann geht das weiter. Ja, und das geht jetzt seit 20 Jahren so. Da muss man sehr aufpassen mit solchen Aussagen. „Dann halt schnell“, „Schnell ein bisschen“, sowas kann schnell mal 20 Jahre dauern. Und dann steht man da. Schläft da. Lebt da. Kennt die Stadt so ziemlich in- und auswendig. Schreibt auf Französisch, hat die Staatsbürgerschaft und hat in Sachen Beziehungen von Nizza übers Elsass bis zur Bretagne so ziemlich alles abgeklappert. Und spielt immer wieder den Deutschen in Film und Fernsehen. Das kann schnell mal zu einem Leben werden, so ein „Schnell ein bisschen“. Da muss man richtig aufpassen. Das ist das Gefährliche, an so einer Stadt. Nett ist die nicht, so eine große kalte Stadt, die einen an einem kalten Februarmorgen mit geschlossenen Armen empfängt. Eine Stadt, in der keiner Englisch können will und alle so ziemlich gar nichts von einem wollen. Und geben wollen sie schon gar nicht. Schlimmer, sie halten nicht einmal zum Zuhören an. Eine Stadt, die was von sich hält. Wie er sie immer gehasst hat, die, die sich für wichtig hielten. Paris hält sich schon für sehr wichtig. Ist so eine richtig üble Geliebte. Verführt einen, aber lässt einen nie richtig ran. Und wenn man dann mal länger weg fährt, dann kommt sie einem wieder so wunderbar vor. Und ruft dauernd an. Und wenn man dann zurückkommt, sie in die Arme nehmen will, tut sie so, als wäre man Luft. Tja, und wenn man dann trotzig wird, so nach dem Motto „Jetzt aber erst recht“, dann sitzt man da so 20 Jahre später in seiner Küche, guckt über den Square des Epinettes und wundert sich. Wie das jetzt alles so passiert ist. Und was Cécile jetzt wohl macht? Sie soll jetzt ja einen neuen haben. Der hat schon Kinder von einer Vorherigen. Dabei hat sie dich so belabert, von wegen der Kinder. Das war ihr wichtig. Und jetzt hat sie sozusagen adoptiert. Und Lara? Und Astrid? Und Marianne, eine der ersten Französinnen?
Und dann wird man halt so ganz schleichend Franzose, und nicht einer von den netten Franzosen aus der Bresso-Werbung, nein, so ein hochnäsig daherkommender Pariser Franzose, so einer, der meint er weiß Bescheid, er kennt die Welt, so einer, der nicht einmal zum Zuhören anhält. Immer schnell läuft, aber merkwürdigerweise trotzdem immer Zeit hat, sich in ein Café zu setzen und bei dem es immer nur um Frauen, Amour und irgendwas mit Kunst geht. Zum Kotzen sind die. Und dass man das dann auch noch mag. Und irgendwie stolz drauf ist. Darauf, dass man das laisser-faire, das in-den-Tag-leben so gut gelernt hat. Dass man jetzt das moralisch, gesellschaftlich verwerfliche, uns-auf-der-Tasche-liegende, vor-sich-hin-lebende Künstlerdasein so voll aufgesogen hat und darin so aufgeht. Wie geärgert hätte das den 19jährigen, ehrgeizigen Deutschen, der hier mit viel Eifer, Disziplin und Tellerwäscher-Millionär-Mentalität angekommen ist. Hat mit dem ersten Teil dieser Mentalität ja auch gut geklappt. Hat allerdings mehr Gläser als Teller gewaschen. Und jetzt sitzt er da, ohne Millionen, und ist auch noch zufrieden?! Wofür hält der sich eigentlich? Eine Frechheit ist das! Schämen sollte der sich. Macht er auch. Aber nur, wenn er zum zwölften Mal am Tag bedauernd den Kopf schüttelt und „Désolé“ murmelt und noch ein bisschen schneller läuft, als hätte er kein Kleingeld in der rechten Hosentasche, weil er das jetzt automatisch so macht. Ein sehr Pariser Reflex. Den lernt man schnell in dieser Stadt, die so schockierend ist wie alle Großstädte, mit ihren Arm-Reich-Kontrasten, ihren aneinander vorbei wuselnden Einzelkämpfern. Aber irgendwie halt doch nett. Kann man schon mitnehmen. Für ein Wochenende mal. Aber 20 Jahre? Wenn sie mich fragen, völlig übertrieben!
Eine Spalte im Asphalt. Erst ganz klein. Klitzeklein. Kann man drübersteigen. Bemerkt man gar nicht, die Spalte. Wenn man 1,80 groß ist. Oder 1,60. Menschlich groß. So ein Chihuahua, der bemerkt sie vielleicht. Ein gehender Spatz bestimmt auch. Eine hinkende Taube auf jeden Fall. Aber eine fliegende nicht. Vielleicht doch. Also wenn da gerade so eine Brotkrume, oder ein krummes Korn am Rand liegen würde. In der, an der Spalte. Da würde die fliegende Taube bestimmt das sehen. Auch von weitem. Die haben da ja so einen Adlerblick. Sowieso, man sagt ja dass selbst ein blindes Huhn mal ein Korn findet, wieso also nicht eine fliegende Taube? Selbst in klitzekleiner, schmaler Asphaltspalte. Wird aber täglich größer. Merkt irgendwann sogar der Bäcker. Ist ja direkt vor seinem Eingang. Wird so ja fast zu seiner, zu einer Bäckerspalte. Hat mit der Klempnerspalte nichts gemeinsam. Wird zur bösen Spalte. Spaltet nach und nach die schöne Bäckerei von all den schönen, hässlichen, und mittelmäßig herausgeputzten Kunden ab. Eine geschäftsschädigende Spaltung im Ort. So hat es der Bäcker auch der Stadtverwaltung gesagt. Hat es ihnen eher um die Ohren gehauen. Mit hochrotem Kopf. Am schnurlosen Telefon, mit beiden Beinen mitten im geschädigten Geschäftsleben stehend, über der Spalte, damit er sie besser erklären kann, damit die Herrschaften von der Stadtverwaltung sie auch schön visualisieren können, diese drastische Spalte. Bald schon 8 Zentimeter breit. Und weit und breit keine Abdeckung in Sicht. Deckungslos, die Spalte. Permanent strauchelgefährdet, die Kundschaft. Wie soll das denn gehen, wenn Brötchenholen zur Bergsteigerpartie wird. Klar, die Kids machen das gerne, das sportliche Spaltenspringen. Aber die Frau Meier, die ist doch gebrechlich, und der Rollator des Kunzen-Witwers, der rollt da hinunter, in die Abgründe der städtischen Gehsteigsinnereien. Dafür ist so ein AOK-Rollator doch gar nicht gedacht, dass er da neben Abwasser- und alten ISDN-Kabeln herumrollt. Das muss er doch nicht können, dem wird doch selbst der Geronimo 80 nicht gerecht, das Topmodell unter den Rollatoren, mit doppelter Ergonom-Handbremse und integrierter Nylonnetztasche. Und wer soll das denn zahlen, wenn da die Laugen- Sesam-, Mohn- und Weizenmischbrötchen purzeln, ganz zu schweigen von den Streusel-, Käse- und Vortagskuchen zum halben Preis. Das kann doch ein deutscher Innungsbäckermeister nicht aus der eigenen Tasche, so tief ist die doch nicht, bei der ganzen Supermarkt- und Industriebackkonkurrenz. Wo doch jetzt auch noch die Überseebäcker die Preise unterbieten. Wenn dann da noch so eine Spalte von unten einem den Boden unter den Füßen wegreißt, dann kann man den Laden ja gleich zu, da wird dann immer schön plakatiert „Kauft vor Haus“, „Gebt’s dem Einzelhandel“, „Ihr netter Laden nebenan“ und dann spaltet man die dann hinterrücks ab als dass man denken könnte da steckten die Großketten, die Aldidlekapennys hintendran. Könnte man meinen. Und die Spalte? Jetzt schon bei mindestens 15 Zentimeter Bodendeckung. Es geht eindeutig zu weit. Der Mann von der Stadt war da, hat gemessen. Da war sie nur bei 12 Zentimetern. Hat gesagt, da müsste man mal was unternehmen, zumindest ein Schild, da könnte ja sonst noch ein Unfall… Derweil purzeln die Brötchen eifrig weiter. Ein Dackel war auch schon drin. Hatte aber eine Reißleine um, also so eine Hundeleine mit Einzug, da war der schnell wieder oben. Hat der ganz schön geguckt, der Depp. Frauchen die Spalte angeschimpft. Kann die Spalte ja auch nichts dafür. Macht ja nur, was Spalten so machen. Spaltet und spaltet, tagaus, tagein. Macht sie sehr gut, immer besser, größer, schöner, weiter, stetiger Fortschritt, bestraft jeden Fehltritt und nährt sich von Stauchungen und Gerstenmischbrot, nur 2,49 die 500 Gramm. Aktion noch bis zum 30.9. Aber wenn das so weiter geht vielleicht noch länger. Kommen ja immer weniger in den Laden. Schaffen es nicht einmal mehr bis zum Bimmeln der Tür.
22 Zentimeter. Bald sollte sie reif sein für die Geburt, witzelt die Hebamme vom Kreiskrankenhaus zur Blumenverkäuferin vom Ortsfriedhof und fällt prompt hinein. 2 Wochen Bettruhe und einen Knöchel so dick wie ein Babykopf, für den man einen Kaiserschnitt braucht. Hat sie aber schon ein wenig verdient, der Witz war nicht gut und kleine Sünden spaltet der liebe Gott ja bekanntlich… 30 Zentimeter. Das Lineal vom Bäckersohn ist jetzt genauso lang wie die Spalte breit ist. Bald muss er es mehrmals anlegen. Einen Finger in der Luft stillhalten, um die gesamte Breite der Spalte zu messen. Heute kommt endlich die Stadt. Im orangefarbenen Kleinlaster, beladen mit großen Spanplatten. Werden beschnitten, gesägt, verlegt und verschraubt. Sieht gut aus. Sauber. Schön besprüht mit gelb und schwarz, dass da auch ja keiner stolpert. Vor 12 Uhr erledigt. Freut sich der Bäcker, Kaffee und Semmeln spendiert er. Bis dann der Bautrupp kommt. Die Dachdecker, die wollen auch zu den Semmeln, stehen zu dritt auf der Platte und dann plötzlich alle 3, einen halben Meter tief im Gehsteig. Wumms die Platten kaputt. Was war denn jetzt das? Die Jungs von der Stadt den Kaffee ausgetrunken, die Platten abgeschraubt, aber nicht ohne vorher die Dachdecker wieder aus der Tiefe auf den Boden der Gehsteigtatsachen zurückgeholt zu haben. Großen Plattenreste auf den immer noch gleich orangefarbenen Kleinlaster geladen und weg waren sie. Hat der Chef noch irgendwas von „falscher Norm“ gemurmelt und „müssten sie neu bestellen“. Der Bäcker ist zu kurz geschoren am Kopf, um sich die Haare zu raufen. Nimmt er einen Hefezopf und schmeißt ihn durch die Bäckerei. Hat den Lehrling nur knapp verfehlt. War dem egal, Hefezopf mag er. Außerdem ist er ein fröhlicher Spaltenspringer. Mehr Spalte = weniger Kunden = weniger Teig = mehr Zeit für Claudia schreiben oder Memes bescrollen. Das würde der Chef nie verstehen, dazu ist der zu alt und zu Excelabhängig. Die Zahlen müssen stimmen, sonst nimmt ihm die Bank die schöne neue HSM40 wieder. Dann können Sie wieder mit der alten Leiermaschine kneten und dann müssen sie halt doch wieder schneller schaffen. Und dann geht alles wieder von vorne los. Da hat er jetzt 15 Jahre geschafft wie blöd, damit das hält, damit die Excel-Tabelle endlich mal schwarz ist unten, und nicht mehr rot, und dann öffnet sich der Boden. Soll die Bank sie doch holen, die HSM40, sollen die doch ihr Geld in der Zweigstelle am Marktplatz kneten, aber erst müssen sie sie über die Spalte hieven, das möchte er sehen, wie das gehen soll. Ging ganz leicht. Da war ein Kranarm am Laster. Eine Bank, die kann sich so was leisten. Einen Laster mit Kranarm. Ganz leicht zu bedienen. Und was hatten sie geschuftet damals, um das schwere Ding auf den Gehsteig und dann über die Stufe in den Laden zu stemmen. Und jetzt einfach mal schwuppdiwupp, zwei Hydraulikstöße und das Ding wieder weg. Da weint selbst der Lehrling ein bisschen. Aber mehr wegen Claudia, die meldet sich nicht mehr seit Montag, aber das weiß ja der Chef nicht, der tröstet ihn trotzdem und freut sich insgeheim, dass er so ein treues Team hat, das mitleidet, wenn sein ganzer Stolz wieder geht, weil das Leasing nicht lief. Derweil spaltet die Spalte weiter. Die Bücherei ist jetzt auch betroffen. Das Kino dann auch bald. Der 724 hält jetzt schon weiter vorne. Kann man ja nicht riskieren, dass da einer direkt vom Bus in die Spalte. Das passt nicht zum Motto der regionalen Verkehrsplaner: „Wir bringen Sie weiter“. Nicht tiefer, weiter. Also lieber weiter vorne halten. Von da aus kann dann ja immer noch jeder für sich selbst entscheiden, ob er in die Spalte fallen will oder nicht. Da mischen sich die lokalen Verkehrsingenieure nicht ein. Das ist Politik. Das gehört nicht in das Verkehrsressort. Da sind die kategorisch. Das war schon damals so, als das Ticket von 2,20 auf 2,40 erhöht wurde, daran wird jetzt auch eine exponentielle Spalte nichts ändern. Dachten die sich so.
Aber als dann die Spalte über die Straße ihren Weg bis zum Eisladen findet, da geht dann doch ein Ruck durch die Stadt. Das haben sie dann in der Lokalzeitung fröhlich mit „Kernspaltung“ betitelt. Da mussten selbst der Rösti, der älteste Hase in der Lokalredaktion, grinsen, als sie den Titel gefunden hatten. Das war frisch, trotz der ernsten Sachlage. Warum „Kernspaltung“, fragst du. Ist doch klar, weil der Ortskern durch die Spalte. Das versteht man doch. Hat aber dann doch keiner verstanden. Da hat der Rösti den Kopf drei Tage lang hängen lassen. War aber besser so. Denn dadurch hat er die zweite, die neue, die bessere Spalte gerade noch so entdeckt, bevor er hineingesaust ist. Ja, gefallen ist er trotzdem, aber mehr gerutscht. Und so nur blaue Flecken. Keine Gehirnerschütterung gar nichts. Hat er gleich seiner Zeitung ein Exklusivinterview aus der Spalte geben können. Und gefilmt hat er sich auch. Wie tief und breit die neue Spalte schon war. Da wird die alte Spalte aber nicht glücklich sein, dass die neue ihr so die Vorabendshow stiehlt. War sie auch nicht. Und hat noch schneller gespaltet. Haben sie um die Wette gespaltet, die zwei. Sind die Häuser nur so reingeplumst, in die Spaltentiefen. Kamen die in der Lokalzeitung mit den lustigen Überschriften gar nicht mehr hinterher. Nur als der Friseursalon dann auch weg war, haben sie noch eine „Haarspalterei“ auf Seite 3 gewagt. Als dann die Lokalzeitungsredaktion inklusive Frauenparkplatz auch schwuppdiwupp 6 Meter nach unten verlagert wurde, war es vorbei mit der Titlerei. Danach ging es dann eh ganz schnell. Nur 3 Tage später war dann ganz Endingen weg. Buchstäblich vom Erdboden verschluckt. In die Spalte gepackt. Findet man heute auf keiner Karte mehr. Kannste lange suchen. Was aus den beiden Spalten geworden ist? Wissen wir auch nicht. Wir wünschen uns ganz fest und tief, dass sie letztendlich zusammengefunden haben und sich zu einer großen, glücklichen Grube vereint haben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spalten sie vielleicht noch heute.
Ausschnitte aus den Filmen La maison de Nina (Richard Dembo), L’arche de Babel (Philippe Carrese) und parisk! (François Barge-Prieur/Jeremias Nussbaum).